

"Stell dir vor..."
"Stell dir vor...
Vor zwei Jahren verstarb mein Bruder. Vor zwei Jahren änderte sich alles. Vor zwei Jahren begann ein Kampf, der nie zu enden scheint.
Es kann jederzeit soweit sein. Mein Tag läuft gut, doch plötzlich zieht es mich runter. Ich höre ein Lied, ich sehe einen Zug, mir fährt eine Erinnerung in den Kopf. Ich sehe einen Rettungswagen oder einen Anglerhut. Es sind oft kurze Momente. Für die Meisten sind es unscheinbare Momente. Für mich sind es Momente, die mich an meinen Bruder erinnern. Es sind Momente, in denen mir wieder bewusst wird, dass ich Hannes nie wieder sehen werde. Es sind Momente, die unglaublich schmerzvoll sind.
Das Schlimmste ist wohl der Kampf gegen mich selbst. Ich kämpfe gegen das Vergessen. Wie hat er gesprochen? Was hat er gesagt? Was haben wir zusammen erlebt? Das Vergessen ist sicher der Grund, warum ich, warum wir uns krampfhaft an Dinge klammern, die ihm gehört haben. Belanglose Alltagsgegenstände haben einen immensen symbolischen Wert. Doch es gibt auch Gedanken, die ich nicht zulassen möchte; die mich erschüttern; gegen die ich ankämpfe. Es sind die Gedanken, an den 1. Oktober 2016. Wie muss es gewesen sein? Was hat Hannes wohl gedacht? Was hat er wohl gefühlt? Das ist krank. Darüber möchte ich nicht nachdenken.
Oftmals befinde ich mich in Situationen, in denen ich die Fassung bewahren muss. Wenn ich aber Spiele vom Club sehe, wenn ich im Stadion bin, wenn ich die Hymne höre, kann und möchte ich nicht gegen meine Gefühle kämpfen. Ich habe Hannes damals das erste Mal mit ins HKS genommen. Die Hymne lief auf der Beerdigung. Der FCM war sein Leben. Denke ich an die Entwicklung des Clubs, an den Aufstieg, an die Euphorie, macht es mich traurig. Es macht mich traurig, weil Hannes all das nicht mehr miterlebt. Und ich weiß genau, dass jede Choreo, jeder Gesang und jedes Spiel, so großartig sie auch sind, mit Hannes noch besser, noch lauter, noch eindrucksvoller wären. Ich wünsche mir so sehr, dass er alles noch miterleben könnte. Ich habe ihm einen Aufstiegs-Schal gekauft. Er liegt auf seinem Grabstein.
Mit jeder Erinnerung, mit jedem Gedanken an meinen Bruder bleibt auch die Frage der Aufklärung. Es bleibt der Kampf für Gerechtigkeit. Gefühlt passiert gar nichts. Das Thema ruht; die Fronten ruhen. Das ist das Beste, was allen Unbeteiligten passieren kann. Von der Politik alleingelassen, von der Justiz alleingelassen. Unter Gerechtigkeit verstehe ich etwas anderes. Es geht um ein Menschenleben. Mein Bruder ist tot und nichts geschieht. Wir müssen Druck ausüben, wir benötigen mehr Öffentlichkeit. Wir brauchen eure Hilfe. Kämpfen wir zusammen, können wir etwas bewegen. Doch lasst uns legal kämpfen. Matthias Niedung bringt es auf den Punkt: „Wir Magdeburger sind groß, weil wir Werte besitzen, weil wir diese verteidigen und weil Respekt dem Anderen gegenüber unsere Basis ist.“
Vieles ist noch wie zuvor, aber nichts ist mehr, wie es einmal war."
Christoph Schindler